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„Das hab‘ ich (so) nie gelernt“,..

ist ein Satz, der manchmal „Welten trennt“ und den man erstaunlich oft hören kann, finde ich.

Da gibt es ganz unterschiedliche Beispiele.

Vatertochter
Die Vatertochter..

Ich z. B. bin wissentlich die meiste Zeit ohne Mutter aufgewachsen – wie gesagt: Ich hatte „verkehrte Welt“ bei mir daheim (s. Beitrag: „die Vatertochter“).

Und so wie heute viele junge Männer nicht mehr wissen, wie sich der Schlips, die Krawatte bindet, stehe ich vor den „normalen“ Kleiderstangen, die ihren Namen verdient haben, schaue sie mir an und finde: Nichts!

Draußen hingegen sieht man hin & wieder Beispiele eines hübschen Kleides, eines vorteilhaften Rocks, die frau gern auf der Stange für sich entdeckt hätte. Aber auch beim nächsten Gang ins Geschäft geht’s wieder schief, ist mir vieles (schon immer) viel zu altbacken und mittlerweile auch knappe 10cm zu kurz.

Dennoch habe ich mir mal nen enges Kostüm genäht, was ich später aber wieder entsorgt habe. Es sah zwar gut aus, war gelungen, passte mir auch, aber nicht in die Situationen meines Lebens damals. Heute fehlt mir ein wenig der Bezug, bräuchte es einen „zweiten Anlauf“.

Ich kenne diesen Satz aber auch von Freunden & Kollegen

Da kann es um so ganz simple, praktische Dinge gehen wie selbst kochen (was auch schon mit der Fantasie beim Einkauf beginnt), Wäsche waschen, Fahrradfahren oder Schwimmen beispielsweise. Es können aber auch ganz lebensnotwendige praktische Fertigkeiten im Stress und/oder in einer möglichen Gleichgültigkeit der Anfangsjahre untergegangen sein, wovon jeder Analphabet sicher „ein Lied zu singen weiß“.

guitarist-407212_1920Absolut nicht selten ist auch, wenn man nie gelernt hat, seinem Leben eine Struktur zu geben, Langeweile zu füllen, mit sich selbst etwas anzufangen, Hobbies oder andere sinnvolle Tätigkeiten allein für sich aus den eigenen Bedürfnissen & Wünschen zu entwickeln, dafür oder für andere Anliegen systematisch zu recherchieren und sich Wissen in gezielter Hinsicht zu erschließen.

Und besonders schwer hat man es, wenn einem niemand frühzeitig gezeigt hat, wie man sich durchsetzt, wie man folgerichtig & sachlich argumentiert, wie man fundiert streitet, mit Misserfolgen umgeht oder überhaupt seine Gefühle ausdrückt oder auch kontrolliert, wie man sich dem anderen Geschlecht in selbstbewusster Form nähert, mit Trennungen & Verlusten konstruktiv umgeht und und und..

Das alles sind Handicaps,

die sich erst im Kontakt & im Vergleich mit Anderen so richtig zeigen bzw. auf die man zurückfällt, wenn man irgendwann allein auf sich selbst angewiesen ist. Jeder kennt irgendetwas davon!

Nicht alles davon muss man können, nicht alles liegt einem. Das Leben geht auch ohne dem weiter. Rein zusätzliche Fertigkeiten sind im Zweifel verzichtbar, hindern uns meist nicht, in unserem Sinne vorwärts zu kommen.

Einiges davon aber würde uns das eigene Fortkommen ebenso wie das Zusammenleben mit Anderen wesentlich erleichtern & bereichern und Viele haben sich das Fehlende im Laufe der letzten Jahrzehnte deshalb auch selbst angeeignet. Sie haben ihre Unsicherheiten überwunden, nachgeholt & gelernt, was ihnen früher nie jemand vermittelt hat – zumindest aber haben sie sich einen ersten Bezug dazu erstritten.

madness-227958_1280Manches davon ist (mittlerweile?) aber auch mit mehr als Unsicherheit, mit echter Angst belegt, wie der Gang zum Zahnarzt beispielsweise – ein Tabu bei nicht Wenigen. Ist dem so, blendet man gern die Folgen und Alles, was damit zusammenhängen könnte, aus, legt sich „seine Wahrheit“ so lange um diese Angst herum zurecht, bis es einfach nicht mehr geht. Auch das kennt fast jeder – nicht nur beim Zahnarzt wink.

Das Fehlen grundlegend menschlicher Fähigkeiten..

allerdings, wie das folgerichtige Argumentieren, das Sich-Durchsetzen, Fairness, die Annäherung an das andere Geschlecht oder der Umgang mit Erfolg & Misserfolg, um nur einige zu nennen, lassen uns meist gar nicht erst so weit kommen.

couple-477873_1280Diese absolut notwendigen Eigenschaften für jeden Menschen fehlen zeitlebens, wenn man nicht die zugewandten & aufgeschlossenen Menschen findet, die einem die jeweiligen Zusammenhänge & Nuancen nahebringen und helfen zu durchleuchten.

Ohne dem kann man sein eigenes Leben nicht wirklich (er-)leben, lässt sich Selbstbestimmheit & Zufriedenheit praktisch nie erreichen, wird das eigene Selbstbild immer lückenhaft, irreal und belastend bleiben.

Ohne dem kommen wichtige Kontakte erst gar nicht zustande, brechen bestehende scheinbar grundlos ab, leben nicht wir das Leben sondern bestimmt das Leben selbst und Andere über uns, steht der Einzelne möglichweise am Rande der Soziopathie oder „versinkt“ in aussichtloser Einsamkeit.

Und das wundert nicht – kann man diese Facetten menschlichen Lebens doch unmöglich allein, stattdessen ausschließlich im Austausch mit verständigen Anderen und auch nur über einen längeren Zeitraum begreifen. Viel zu komplex ist das jeweilige Gefühlsnetz, das man hierfür zu deuten erlernen und von anderen reflektiert sehen muss. Unmöglich bleibt es, wider die Natur ist es, dies allein zu schaffen!

Das heftigste Manko

aber muss es sein, was die Fachwelt unter Alexithymie fasst – die sogen. totale Gefühlsblindheit oder auch Gefühlskälte.

Gemeint ist nicht, „die kalte Schulter“, nicht „die Mauer“, die mancher willentlich & wissentlich um sich zieht, um nicht angreifbar zu sein, gezielt keine seiner Schwächen preiszugeben. Gemeint ist auch nicht die pathologische Variante von Psychopathen, denen soziale und wichtigste selbstbezogene Gefühle offensichtlich wirklich fehlen.

Gefühlsblinde haben keine Worte für ihre sehrwohl existenten Emotionen,

kennen diese Metaebene des Beschreiben-Könnens von dem, was sich in Ihnen tut und das sie in die Gemeinschaft integrieren könnte, offensichtlich nicht.

Stattdessen beschreiben solche Menschen das, was sie fühlen, als reine Körperempfindung. Darüber hinaus fehlt ihnen das Vokabular und damit auch die motivierende Verbindung zu ihren Emotionen wie auch jede Handhabe, die Gefühle anderer zu erkennen oder gar empathisch mitfühlen zu können. Das ist absolut nicht selten. Wussten Sie..?

Rund jeder 8. ist von Gefühlsblindheit betroffen,

monkey-236864_1920deutlich mehr Männer als Frauen, unterschiedlich ausgeprägt, sagt die neuere Forschung auf dem Gebiet der Alexithymie.

Die meisten haben gelernt, ihren fehlenden Gefühlsbezug zu kaschieren und haben sich auch den passenden, nüchternen Beruf ganz automatisch gewählt. Gerade bei Männern geht manche Tendenz hierzu in ihrem Rollenbild als Mann unter, wird von ihnen selbst eher weniger notiert.

In Situationen aber, die Anteilnahme (z. B. bei Trauer) erwarten lassen, stehen oftmals ihre Angehörigen vor scheinbar regungslosen Wesen, denen zwar einige Tränen in den Augen stehen, die aber nicht wissen, was das Alles zu bedeuten hat.

Neuste Erkenntnisse aus Hirnforschung & Psychologie lassen vermuten, dass neben jenen, die erst über erhebliche Traumaerfahrung alexithym geworden sind (hier scheint das Gehirn selbst die Trennung vorgenommen zu haben), vor allem die ersten Kinderheitsjahre diesen „Bruch im Selbst“ erzeugt haben.

Sie kennen das vielleicht, dass kleinste Kinder noch nicht wissen, was z. B. Angst genau ist, stattdessen häufig über unerklärliche Bauchschmerzen klagen? Erst wenn wir Großen sie fragen: „Hast Du Angst?“, oder.. wenn die Kleinen freudig lachen und wir reflektieren: „Freust Du Dich?“, erhalten die Lütten peut à peut einen Namen für ihre Emotion, lernen damit umzugehen und manches über die Zeit im Zusammenhang zu erkennen, auszudiffenzieren & zu relativieren.

Bleibt das aus, können die Gefühlsinformationen aus dem lymbischen System im Entscheidungszentrum unseres Stirnhirns nicht in assoziierten Bildern & Begriffen umgesetzt werden, wird der notwendige Austausch zwischen den Gehirnhälften völlig blockiert (der ohnehin bei dem mehr logisch  orientierten Denkstil von Männern weniger ausgeprägt stattfindet) und bleibt es bei der reinen Körperempfindung bishin zum Schmerz.

Was aber hat das Thema hier im Blog verloren?

Diese extremste Form der möglichen „Lücken im Selbst“ und ihre normale Häufigkeit zeigt auch aus dieser Perspektive, wie wichtig v.a. unsere typisch menschlichen Fähigkeiten als Komplettpaket für uns sind.

Unverzichtbar dazu gehören unsere  4-6 Grundemotionen (Wut, Trauer, Freude, Ekel, Überraschung und Furcht/Angst), die jeder auf dieser Welt in jeder Kultur bereits von Kindesbeinen an spürt, und aus denen sich alle weiteren Gefühle dann ausdifferenzieren.

Welche Körperregionen mit welcher Emotion dabei verbunden sind, wohin welches Gefühl, welcher Schmerz unser Augenmerk damit lenkt und welche Rückschlüsse sich zwischen Messdaten der Forscher & Einsichten der Psychologie damit ergeben, lesen Sie nächste Woche. (s. Link am Ende des Beitrags..)

Natürlich aber auch, wie man seit Kurzem versucht, auch jene Gefühlsblinde auf rein therapeutischem Wege wieder näher ans Leben „heranzutragen“ und es offensichtlich tatsächlich schafft, ihre nachweisliche Hirnschranke auch wieder abzubauen.

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